Stories

Warum Gedichte interpretieren?

Liebe Freunde des Kombinats,

heute früh hat mich mal wieder ein Artikel bei Spiegel Online wirklich aufgeweckt. Zwei Redakteure (Jan Friedmann und Hauke Goos) scheinen sich in einer Reihe „Die Schulverbesserer“ zur Aufgabe gemacht zu haben, die Leser des Blattes darüber aufzuklären, was im Schulkontext wichtig sein sollte und was nicht. Angelehnt ist diese Debatte an den Twitterpost einer jungen Lady mit 17 Jahren, die sich darüber beschwert hatte, eine Gedichtsanalyse schreiben zu können, aber keine Ahnung hat von Steuern, Versicherung und (jetzt kommt’s) Miete.

Nachdem man so alle Expertenmeinungen gelesen hat, stellte sich mir sofort eine erste Frage: Auf wen zielt die künftige Schulkonzeption ab? Auf die Schüler oder den Markt? Es ist wirklich schlecht zu erkennen, weil es immer wieder darum geht, inwieweit man das, was man in der Schule lernt, später im Erwerbsleben gebrauchen kann. Und da sich unsere Gesellschaft rasant in Richtung Gotham City bewegt, ist für freigeistliche Dinge kein Platz mehr. Wir brauchen Roboter. 

Diesem Mädel, welches sich über die Fähigkeiten ein Gedicht zu analysieren selbst befragt, kann man vielleicht eine kurze Antwort geben. Man fragt sich, ob ihr in den Sinn kam, WARUM sie beispielsweise ein Gedicht von Gottfried August Bürger hat interpretieren müssen.

Der Bauer an seinen durchlauchtigen Tyrannen

Wer bist du, Fürst, daß ohne Scheu Zerrollen mich dein Wagenrad, Zerschlagen darf dein Roß?
Wer bist du, Fürst, daß in mein Fleisch Dein Freund, dein Jagdhund, ungebleut Darf Klau’und Rachen hau’n?
Wer bist du, daß, durch Saat und Forst, Das Hurra deiner Jagd mich treibt, Entatmet, wie das Wild? –
Die Saat, so deine Jagd zertritt, Was Roß und Hund und Du verschlingst, Das Brot, du Fürst, ist mein.
Du Fürst hast nicht, bei Egg‘ und Pflug, Hast nicht den Erntetag durchschwitzt. Mein, mein ist Fleiß und Brot! –
Ha! du wärst Obrigkeit von Gott? Gott spendet Segen aus; du raubst! Du nicht von Gott, Tyrann!

Möglicherweise zielt die Fähigkeit den Sinn eines Gedichts interpretieren zu können darauf ab, auch in der aktuellen Zeit, in den Liedern und Texten von Menschen, die sie schreiben, jenes Unrecht zu erkennen, was unsere Verträge und Abkommen nicht mehr erkennen lassen. Möglicherweise ist die Lyrik an der Stelle eine wichtige Instanz, zur Aufklärung der Schüler und späteren Bürger, damit ihnen das Unrecht eher auffällt und sich im Kopf der Gedanke ausdehnt, dass es absurd ist zu glauben, jemand Ernanntes kümmert sich um deine Sorgen. Möglicherweise ist es genau diese Fähigkeit, die uns dazu bringen könnte, Sido und Bushido zu verstehen, anstatt sich an ihrer Sprache zu reiben. Denn genau wie Gottfried August Bürger hat Sido offensichtlich den Drang, der Welt eine andere Realität zu zeigen. 

Wie man sie nun annehmen möchte als seine eigene Perspektive, das lassen wir mal ungeklärt. Darum geht es nicht. Aber verstehen sollte man. Und das muss man lernen.

Wo?

Na in der Schule.

Wir vom Kombinat haben in der Schule kaum ein Gedicht begriffen in seiner Dichte und seiner Aussage. Aber wir haben uns immer Mühe gegeben. Vieles von dem, was wir damals einfach nicht wahrhaben wollten, ist heute deutlich schlimmer als befürchtet. Also plädieren wir eindeutig für Gedichtsinterpretationen in der Schule anstatt Informationsveranstaltungen über Steuern, Versicherungen und Miete!

Eine schöne Woche wünschen Heinrich Heine, Gottfried August Bürger und Sido.